Kerem Schamberger (30) engagiert sich seit Jahren für die Rechte von marginalisierten Minderheiten in der Türkei. Obwohl Kerems Familie selbst Türken sind, sagt er, dass er die Türkei erst als wirkliche Demokratie ansieht, wenn alle Ethnien, die in dem Land leben, dieselben Rechte haben. Sein Augenmerk gilt dabei insbesondere der kurdischen Minderheit in der Türkei.
von Philipp Kreiter
NJB: Reporter ohne Grenzen listet die Türkei weltweit auf Platz 151, was die Pressefreiheit betrifft, zwischen Tadschikistan und der Demokratischen Republik Kongo. Wie ist die sich stetig verschlechternde Entwicklung der letzten Jahre einzuordnen?
Kerem Schamberger: Es gibt eine tendenzielle Kurve nach unten. Man kann das an einer Zahl festmachen, denn es gibt in der Türkei momentan mindestens 115 inhaftierte Journalisten. Diese Zahl ist so hoch wie in keinem anderen Land der Welt, sowohl im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung als auch absolut. Diese Zahlen sind insbesondere nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli in die Höhe geschnellt. Dabei sind besonders viele Journalisten festgenommen worden, die echte oder angebliche Kontakte zur sogenannten Gülen-Bewegung haben. Es hat aber auch kritische und kurdische Journalisten getroffen.
Ab welchem Punkt begann die Regierungspartei, die “Partei für Gerechtigkeit und Ordnung” (AKP), systematisch gegen eine unabhängige Presse vorzugehen?
Ein wichtiger Zeitpunkt war, als das erste Mal massiver gesellschaftlicher Protest gegen die Erdogan-Regierung aufgeflammt ist. Konkret geht es um die sogenannten Gezi-Proteste 2013, als zehntausende Bürger gegen die Regierung auf die Straße gingen. Gleichzeitig dazu haben auch immer mehr Journalisten kritisch über die Regierung berichtet – und dafür sofort die Quittung bekommen.
Bedeutet das, dass die türkische Presse vor diesen Protesten weniger kritisch über die Regierung berichtet hat als danach?
Momentan ist meiner Ansicht nach die Hochphase des unkritischen Journalismus. Das liegt aber hauptsächlich daran, dass kritische Presse immer mehr unterdrückt wird. Und gleichzeitig hat sich die AKP einen sogenannten Medienpool geschaffen, der aus absolut regierungstreuen Medienorganen besteht und die Presselandschaft in der Türkei dominiert. Dieser Pool macht mittlerweile knapp 90 Prozent aller Medien aus.
Was geschah mit den anderen Medien des Landes, die nicht Teil des Pools sind?
Der Großteil der unabhängigen Presse ist mittlerweile geschlossen worden. Besonders erwähnenswert ist dabei die Schließung der Zeitung „Zaman“, die bis dahin die auflagenstärkste in der Türkei war. Auch die türkisch-kurdische Tageszeitung Özgür Gündem wurde erst vor wenigen Wochen verboten, aufgrund angeblicher PKK-Propaganda. Dazu sitzen viele Journalisten in Haft oder mussten ins Ausland fliehen. Ein Beispiel ist die bekannte Schriftstellerin Aslɩ Erdoğan, die seit der Schließung von Özgür Gündem in Haft sitzt.
Immer wenn es in Deutschland massive Konflikte zwischen Medien und Politik gab, stellten sich die Medien meist hintereinander, etwa in der SPIEGEL-Affäre oder im Fall Netzpolitik. Gibt es keinen Widerstand von anderen Medien, wenn eine Zeitung geschlossen wird oder Journalisten inhaftiert werden?
Im Gegenteil – insbesondere die Erdogan-treuen Medien propagieren eine solche Schließung aktiv. Kritische, linke oder kurdische Journalisten werden regelmäßig als Volksverräter oder gar Schlimmeres bezeichnet. Es ist unglaublich, was in manchen Leitartikeln gefordert wird, wer sich da alles Journalist nennt. Ein Beispiel: Als Journalistinnen Polizisten vorwarfen, sie hätten sie in der Haft sexuell belästigt, schrieb ein einflussreicher Journalist, dass sich die Journalistinnen schämen sollten anzunehmen, sie seien so attraktiv, dass ein türkischer Polizeibeamter sie belästigen wollte.
Gab es während der Schaffung des Medienimperiums der AKP-Regierung keinen Widerstand von Seiten der etablierten Medien? Oder gingen diese auch davon aus, dass mit Erdogan ein liberaler Führer an die Macht gekommen war?
Die Einschätzung, dass die AKP ursprünglich eine liberale Partei war, ist meiner Ansicht nach falsch. Ich glaube, dass sie schon immer islamisch/islamistisch autokratisch war. Sie hatte am Anfang nur nicht genug Macht, um ihre Ideen umzusetzen. Diese Macht hat sie jetzt konsolidiert und dann ihr wahres Gesicht gezeigt. Diese Erzählung vom Paulus zum Saulus finde ich falsch.
Die einzige Institution, die die Möglichkeit gehabt hätte, Erdogan zu stoppen, wäre die Dogan-Gruppe gewesen. Doch als Erdogan an die Macht kam, präsentierte er ihr erst mal eine Steuerrechnung über mehrere Milliarden türkischer Lira – da war der Widerstand ganz schnell dahin. Und jetzt als Erdogan sich nach dem Putsch im Fernsehen meldete, geschah das beim Sender CNN Türk, der auch zur Dogan-Gruppe gehört. Man kann dies als endgültiges Zeichen der Versöhnung zwischen ihm und der Dogan-Gruppe sehen.
Welche Rolle spielt das Ausland im Hinblick auf die Pressefreiheit in der Türkei?
Meiner Ansicht nach haben nur die westlichen Regierungen die Macht, dort etwas substanziell zu verändern. Aber spätestens seit Beginn der Flüchtlingskrise ist die Türkei als strategischer Partner zu wichtig, da wird in anderen Bereichen gerne mal ein Auge zugedrückt.
Aber auch schon vor der Flüchtlingskrise hielten sich westliche Regierungen auffallend zurück, was die Türkei betrifft, etwa im Hinblick auf die Gezi-Proteste. Woran liegt das?
Die Türkei ist NATO-Mitglied. Und das ist ja nicht nur ein Militärbündnis, sondern wird gerne als Wertegemeinschaft dargestellt. Dies würde komplett konterkariert werden, wenn ein Mitglied Missstände in einem anderen Mitgliedstaat anprangern würde. Deshalb kam auch schon vorher nichts.
Du malst ein ziemlich düsteres Bild von der Zukunft der türkischen Presse, gibt es denn keine Aussicht auf Besserung?
Wenn es irgendwo Hoffnung gibt, dann liegt diese wohl im Internet. Dort gibt es noch einige unabhängige Medien, auch weil einige Zeitungen ins Internet wechseln mussten. Aber auch hier gilt: Der türkische Staat ist allgegenwärtig. Etwa wenn in sozialen Medien kurdische Accounts mit mehreren zehntausend Followern einfach verschwinden – hier liegt wohl eine unrühmliche Zusammenarbeit von Facebook und Twitter mit den türkischen Behörden vor. Beweisen lässt sich natürlich nichts, aber auffällige Zusammenhänge gibt es schon. Beide Netzwerke waren schon häufiger in der Türkei gesperrt, klar, dass sie dann lieber ein paar unliebsame Konten sperren, als ihre Dienste gar nicht anbieten zu dürfen.
Und generell gilt wohl, dass die Pressefreiheit nur durch massiven Druck aus dem Ausland besser wird, besonders die Bundesregierung sehe ich hier in der Pflicht. Die aktuelle Situation macht mir aber wenig Hoffnung.
Mensch, Kommunist, Student der Kommunikationswissenschaft und Blogger. Kerem twittert unter: @KeremSchamberg.
Philipp Kreiter studiert Politikwissenschaften und schreibt im Lokalteil der Süddeutschen Zeitung. Philipp twittert unter @philkreiter.
Dieser Artikel ist ein Beitrag der edition ausland.